DEKRA: Lkw-Assistenzsysteme retten Leben

19. Sept. 2018
Leistungsfähige Fahrerassistenzsysteme im Lkw können Menschenleben retten. Ihre Verbreitung in der Flotte lässt aber noch zu wünschen übrig. In manchen Bereichen sind außerdem noch technische Weiterentwicklungen nötig.
Die Sachverständigenorganisation DEKRA fordert Hersteller, Politik, Spediteure und Fahrer auf, das Sicherheitspotenzial von Systemen wie Spurhalteassistent, Notbremsassistent oder Abbiegeassistent voll auszuschöpfen. „Die Entwicklung der Unfallzahlen geht zurzeit in die richtige Richtung, aber wir dürfen in unseren Anstrengungen für die Verkehrssicherheit nicht nachlassen“, sagte DEKRA Vorstand Clemens Klinke vor der Eröffnung der IAA Nutzfahrzeuge in Hannover. Die DEKRA Experten haben mit Fahrversuchen im DEKRA Technology Center am Lausitzring den potenziellen Nutzen von Assistenzsystemen erneut gezeigt.
Immer wieder werden die DEKRA Unfallsachverständigen zu schweren Auffahrunfällen mit Nutzfahrzeugen, gerade am Stauende auf der Autobahn, gerufen. „Die Masse, die ein beladener Lkw mit sich bringt, führt hier naturgemäß zu besonders schweren Unfallfolgen“, so Klinke. „Solche Unfälle können moderne Notbremsassistenzsysteme in vielen Fällen vermeiden oder zumindest die
Unfallschwere deutlich verringern.“ Der Notbremsassistent warnt den Fahrer zunächst rechtzeitig vor der drohenden Kollision mit einem per Radar und/oder Kamera erfassten Hindernis. Wenn der Fahrer nicht reagiert, leitet das System selbsttätig eine Bremsung ein.
Notbremsassistenzsysteme leisten deutlich mehr als bisher vorgeschrieben
Notbremsassistenten sind seit 2015 für die meisten neu zugelassenen Serien-Lkw über 8 Tonnen vorgeschrieben. Im November 2018 tritt die Ausrüstungspflicht für neu zugelassene serienmäßige Nutzfahrzeuge über 3,5 Tonnen in Kraft. Die Vorschrift verlangt von den Systemen allerdings nur eine bestimmte Verringerung der Geschwindigkeit, zum Beispiel bei pneumatischen Bremsanlagen auf ein stehendes Hindernis eine Reduktion um 20 km/h.
Viele der heute verfügbaren Systeme leisten allerdings deutlich mehr als diese Vorgabe. „Die Fahrzeuge kommen – je nach Ausgangsgeschwindigkeit – in den meisten Fällen selbst vor einem stehenden Hindernis komplett zum Stillstand und vermeiden die Kollision. Das haben unsere Versuchsfahrten auf unserem Testgelände am Lausitzring mit verschiedenen Lkw-Fabrikaten gezeigt“, erklärt DEKRA Vorstand Klinke. „In den anderen Fällen bauen die Systeme durch die automatische Gefahrenbremsung den allergrößten Teil der Bewegungsenergie ab, so dass eine Kollision am Ende wesentlich geringere Auswirkungen hat.“
Erste positive Auswirkungen von Notbremsassistenten auf die Unfallstatistik lassen sich bereits feststellen. Das zeigt eine aktuelle Analyse aus dem Verkehrssicherheits-Screening in Baden-Württemberg mit Blick auf Autobahn-Unfälle, bei denen Sattelkraftfahrzeuge Hauptverursacher waren. Danach ist hier zwischen 2015 und 2017 der Anteil der Auffahrunfälle von knapp 61 Prozent auf 54 Prozent gesunken. Waren 2015 noch fast 73 Prozent aller Getöteten und Schwerverletzten bei Auffahrunfällen zu verzeichnen, sank der Anteil bis 2017 auf gut 66 Prozent. Bei den polizeilich geschätzten Sachschäden zeigt sich ein ähnliches Bild (2015: 73 Prozent bei Auffahrunfällen, 2017: 63 Prozent).
Damit die verfügbaren Notbremsassistenten ihr Sicherheitspotenzial noch stärker ausspielen können, müssen sie in der Flotte möglichst weit verbreitet sein. „Wir rufen deshalb die Transportbranche, allen voran unsere DEKRA Mitglieder, dazu auf, ihre Fahrzeuge mit den besten verfügbaren Notbremssystemen auszurüsten und sich nicht auf die gesetzlichen Mindestanforderungen zu beschränken“, so Klinke. Manche Hersteller bieten serienmäßig Systeme an, die den vorgegebenen
Mindeststandard leisten, während die neuesten und leistungsfähigsten Notbremssysteme als Sonderausstattung verfügbar sind. „Wir appellieren deshalb auch an die Nutzfahrzeughersteller, die Sicherheitssysteme der jeweils neuesten Generation als Serienausstattung zu verbauen. Außerdem setzen wir darauf, dass die Entwicklungsarbeit weitergeht, um die Systeme noch weiter zu verbessern.“
Fahrer sollten sich nicht blind auf Assistenzsysteme verlassen
Entscheidend für die Wirkung von Notbremsassistenten ist aber auch, dass sie während der Fahrt nicht abgeschaltet werden. „Man muss sich die Frage stellen, warum derartige Systeme überhaupt abschaltbar sein sollten, geschweige denn mit einem einfachen Schalter im Cockpit. So ist sogar eine versehentliche Abschaltung denkbar“, sagt der DEKRA Vorstand. Wichtig sei auch, dass Fahrer über die Funktionalitäten ihres Notbremssystems genau Bescheid wüssten. „Manche schalten wohl irrtümlich ihren Notbremsassistenten ab, weil ihnen der Abstandsregeltempomat ACC während der Fahrt auf die Nerven geht. Es ist im Fall der Fälle natürlich verheerend, wenn ein Unfall passiert, den der eingeschaltete Notbremsassistent hätte verhindern können.“
Trotz allem dürfen sich Lkw-Fahrer nach Ansicht des DEKRA Experten nicht blind auf ihr Notbremssystem verlassen. „Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass Fahrer denken: ‚Ich kann mich am Steuer ruhig ablenken lassen und mit anderen Dingen beschäftigen, im Ernstfall rettet mich ja der Notbremsassistent‘“, meint Klinke. „Assistenzsysteme sollen dem Fahrer helfen, wenn er einen Fehler macht – nicht mehr und nicht weniger.“
DEKRA Sicherheitspartner des Bundesverkehrsministers
Das gilt auch für den Abbiegeassistenten, der zurzeit besonders im Zentrum der verkehrspolitischen Diskussion steht. DEKRA ist Sicherheitspartner des Bundesverkehrsministers bei der „Aktion Abbiegeassistent“ und setzt sich dafür ein, dass die Systeme möglichst schnell weiter in der Flotte verbreitet werden. „Die Unfälle, bei denen ein abbiegender Lkw-Fahrer einen Radfahrer oder Fußgänger im toten Winkel nicht sehen kann und deshalb erfasst, sind zwar verhältnismäßig selten, wir sprechen hier von rund 30 Getöteten pro Jahr in Deutschland. Allerdings haben diese Unfälle eben fast immer besonders schlimme Folgen.“
Aktuell bietet ein Lkw-Hersteller einen Abbiegeassistenten ab Werk an, andere sind in der Entwicklung. Außerdem sind verschiedene Nachrüstlösungen verfügbar. Sie alle überwachen den toten Winkel neben dem Lkw, den der Fahrer weder direkt noch über Spiegel einsehen kann, mit Radarsensoren bzw. Kameras und warnen den Fahrer, wenn sich dort jemand aufhält. „Einige Nachrüstlösungen haben wir in Kooperation mit DEKRA Mitgliedsunternehmen aktuell in der
Praxiserprobung“, so Klinke. „Wir planen mittelfristig auch größere Testreihen, um eine konkrete Empfehlung abgeben zu können.“
Trotz seines Sicherheitspotenzials könne der Abbiegeassistent das Problem der Abbiegeunfälle aber nicht alleine lösen, betont der DEKRA Vorstand. Schon im Jahr 2004, als elektronische Assistenzsysteme noch Zukunftsmusik waren, haben DEKRA Experten in einem Forschungsbericht für die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) Verbesserungsmöglichkeiten zur Vermeidung von
Abbiegeunfällen aufgezeigt. Genannt waren unter anderem akustische Warnsignalgeber am Lkw oder eine vollständige Phasentrennung des Ampel-Grünlichts zwischen Kraftfahrzeugen und Radfahrern bzw. ein Phasenverzug.
„Ein weiteres wichtiges Thema, das wir seit langem fordern, sind mitblinkende Seitenmarkierungsleuchten. Sie helfen dem Radfahrer oder Fußgänger, der sich neben dem Lkw befindet, zu erkennen, dass dieser abbiegen will.“ Seit Oktober 2015 sind zusätzliche seitliche Fahrtrichtungsanzeiger bei Lkw und Bussen über 9 Meter Länge sowie bei schweren Anhängern für neue Fahrzeugtypen vorgeschrieben. Alternativ gilt die Vorschrift als erfüllt, wenn die Seitenmarkierungsleuchten mitblinken. DEKRA plädiert dafür, auch die Nachrüstung dieser Sicherheitsfunktion im Fahrzeugbestand zu forcieren.
Handlungsbedarf für den Gesetzgeber
Auch für den Gesetzgeber sieht Klinke Handlungsbedarf. Die Regelung in §5, Absatz 8 der Straßenverkehrsordnung ist aus seiner Sicht problematisch. „Sie erlaubt Rad und Mofa Fahrenden, an Lkw, die zum Beispiel an der Ampel warten, rechts vorbei zu fahren, wenn ausreichend Platz vorhanden ist. Das Problem ist aber: Dieser Platz entsteht überhaupt nur dann, wenn der Lkw sich etwas weiter links einordnet, um nach rechts abbiegen zu können“, erläutert Klinke. „Das heißt, dass ungeschützte Verkehrsteilnehmer durch diese Regelung buchstäblich in eine Falle gelockt werden. Wir fordern seit Jahren, dass dieser Absatz 8 im Interesse der Sicherheit der Radfahrer gestrichen wird.“
Wichtig ist aus Sicht von DEKRA schließlich auch die Aufklärung von Radfahrern und Fußgängern über die Gefahren des toten Winkels. Das könne zum einen beispielsweise durch auffällige Aufkleber am Heck des Lkw geschehen. Eine entsprechende Kampagne stellt DEKRA ebenfalls auf der IAA vor. Zum anderen sei Aufklärungsarbeit etwa an Schulen unerlässlich, so Clemens Klinke: „Unsere bundesweit 75 DEKRA Niederlassungen starten in diesem Herbst eine Schul-Kampagne. Hier zeigen unsere Experten Schulkindern direkt am und im Lkw, was ein Fahrer draußen sehen kann – und was eben nicht.“
DEKRA Stand auf der IAA in Halle 17
Genau darüber können auch Messebesucher bei DEKRA in Halle 17 auf der IAA Nutzfahrzeuge in Hannover mehr erfahren. Am Steuer der Zugmaschine auf dem Stand B07 können sie zum einen selbst erleben, wie die Sichtverhältnisse aus dem Lkw-Cockpit selbst bei optimal eingestellten Spiegeln sind. Zum anderen können sie einen nachgerüsteten Abbiegeassistenten in Aktion sehen.
„Unser Anliegen ist seit mehr als 90 Jahren, dass der Straßenverkehr immer sicherer wird“, so DEKRA Vorstand Klinke. „Gerade Assistenzsysteme im Lkw bieten hier aus unserer Sicht ein großes Potenzial. Entscheidend ist aber, dass alle Beteiligten mit Nachdruck darauf hinarbeiten, dass dieses Potenzial auch genutzt wird – im Interesse der Sicherheit auf unseren Straßen.“
Weitere Informationen unter