Alpentransit: Deutschland behindert Gütertransport

11. Mai 2022 Newsletter
Die Schweiz hat in Sachen Alpentunnel bei Zeitplan und Finanzierung vor zwei Jahren eine Punktlandung hingelegt. Anders Deutschland. Deutschland hinkt mit seinen Strecken für den Zulauf deutlich hinterher. 30 Jahre sind seit der Entscheidung für die Neue Alpentransversale vergangen, mit Glück sind die Bauarbeiten in Deutschland im Jahr 2041 beendet.
Die Schweiz hat vor 30 Jahren ein Transitabkommen mit der Europäischen Union geschlossen. Vereinbart wurde der Bau einer Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit drei Tunneln, um mehr Transporte zu ermöglichen. Das Jahrhundertwerk wurde 2020 vollendet. Viele Lkw-Verkehre können auf dem wichtigsten europäischen Korridor Rotterdam–Genua von der Straße auf die umweltfreundlichere Schiene verlagert werden, aber ohne Zulaufstrecken geht die Rechnung nicht auf. Die Eidgenossen warten schon lange auf deutliche Fortschritte in Deutschland, doch beim großen Nachbarn ist man nach 30 Jahren nur ein kleines bisschen weitergekommen.
Mehr als 20 Jahre Verspätung
Nord- und Südeuropa sind durch die Flachbahn am Gotthard, Ceneri und Lötschberg näher zusammengerückt, zusätzliche Kapazitäten wurden geschaffen, Fahrtzeiten verkürzt. Aber die vollen Effekte von schweizerischer Ingenieursleistung, gepaart mit einer enormen finanziellen Kraftanstrengung des Staates, werden wohl erst in den 2040er Jahren erreicht. „Die Fertigstellung der Neubaustrecke mit durchgehender Viergleisigkeit ist für 2035 geplant“, sagt eine Sprecherin der Bahn. Und die deutsche Ausbaustrecke lässt noch länger auf sich warten. Wenn es nicht noch zu weiteren Verzögerungen kommt, sollen die Arbeiten zur Realisierung von Geschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern bis 2041 vollendet sein, sagt sie.
Drei neue Tunnel für 22 Milliarden
Deutschland hätte damit eine Verspätung von mindestens 20 Jahren zu Wege gebracht. Währenddessen haben die Schweizer mit Investitionen von umgerechnet 22 Milliarden Euro drei neue Eisenbahntunnel fertiggestellt und auf der Strecke von Basel ins Tessin einen Vier-Meter-Korridor realisiert, wo Sattelauflieger mit einer Eckhöhe von vier Metern transportiert werden können. Auch Italien hat auf seiner Seite der Alpen seine Hausaufgaben gemacht. Die Lage ist für Deutschland nicht nur beschämend, sondern widerspricht gemeinsamen Abmachungen genauso wie den Zielen einer umweltschonenderen Verkehrspolitik, die sich die Bundesregierung bereits lange vor der jetzigen Koalition auf die Fahnen geschrieben hatte.
Abmachungen werden nicht gehalten
Der Zulauf aus dem deutschen Norden ist im Wesentlichen die stark belastete Rheintalbahn. In der „Vereinbarung von Lugano“ waren Deutschland und die Schweiz 1996 übereingekommen, dass der wichtige Abschnitt zwischen Karlsruhe und Basel im Einklang mit der Verkehrsnachfrage von zwei auf vier Spuren ausgebaut werden soll – ein konkretes Jahr für die Fertigstellung wurde damals nicht festzurrt. Als das deutsche Scheitern nicht mehr zu beschönigen war, sollte eine zusätzliche Ministererklärung zwischen der Schweizer Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga und ihrem deutschen Kollegen Andreas Scheuer (CSU) 2019 Kapazitätssteigerungen durch kurzfristige Maßnahmen bringen. Es hakt aber weiterhin.
Hohe Kapazitäten vorhanden
Vor den Transitverhandlungen mit der EU wurde in der Schweiz 85 Prozent des Transitgüterverkehrs per Bahn abgewickelt. Für zusätzliche Verkehre brauchte es einen Kapazitätsausbau, und die Schweiz zeigt längst, dass sie ihren Verpflichtungen gegenüber der EU mithilfe einer umweltverträglichen Bahnlösung nachkommt. Die Transportkapazität auf der Schiene hat sich mithilfe der NEAT auf 67 Millionen Tonnen erhöht, 2018 wurden davon rund 28 Millionen Tonnen genutzt, so eine Studie. Insgesamt könnten 370 Güterzüge täglich gefahren werden, was grob der Hälfte des gesamten derzeitigen Gütertransitverkehrs über die Alpen entspricht.
Alpenschutz in der Verfassung
Die Politik in der Schweiz stand stärker unter Druck als anderswo. In der direkten Demokratie des Landes hatten die Bürger 1994 für eine Volksinitiative „zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitverkehr“ gestimmt, der in der Verfassung des Landes verankert wurde. Im Jahr 2001 trat das Verlagerungsgesetz in Kraft, mit dem möglichst viel alpenquerender Schwerverkehr von der Straße auf die Schiene gelenkt werden sollte. Gleichzeitig wurde die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) eingeführt. Die Lkw-Maut, die auf allen Straßen der Schweiz bezahlt werden muss, war mit Milliardeneinnahmen ein wichtiger Bestandteil der Tunnelfinanzierung. Sie führte auch dazu, dass seitens der Transportunternehmen immer sauberere Lkw in Richtung Italien eingesetzt wurden – die Schweizer Verkehrspolitik strahlte so nach Europa aus.
Viel bewirkt - nicht alles erreicht
Höhepunkt der NEAT-Anstrengungen war Ende 2016 die Eröffnung des 57 Kilometer langen Tunnels durch das Gotthardmassiv. Die Schweizer legten bei der Einhaltung des Zeitplans ebenso wie bei der Finanzierung des gesamten Projektes eine Punktlandung hin. Der Verfassungsauftrag aber konnte auch nach Fertigstellung des NEAT-Systems bisher nicht erfüllt werden. Und trotzdem wurde viel bewirkt: Der Anteil der Schiene beim Gütertransport über die Schweizer Alpen lag Ende 2021 bei 71,9 Prozent, das ist so viel wie nirgendwo sonst. Die gesetzlich festgelegte Zahl von maximal 650.000 Fahrzeugen im alpenquerenden Schwerverkehr wurde aber laut jüngstem Verlagerungsbericht mit 898.000 (2019) beziehungsweise 863.000 (2020) Lkw-Fahrten erneut weit verfehlt. „Wir sind noch nicht dort, wo wir sein sollten“, stellte Ministerin Sommaruga fest.
Horrorszenario: 800.000 Lkw zusätzlich
Die Verlagerungsinstrumente NEAT, LSVA und Bahnreform entfalten ihre Wirkung, betont die Regierung. Ohne sie und weitere flankierende Maßnahmen „würden jährlich zusätzlich etwa 800.000 schwere Lkw die Schweizer Alpen passieren“. Trotzdem: Etwa ein Drittel der Lkw müsste noch verschwinden. Aber das kommt einem Luftschloss gleich, denn der Steuerungseffekt der LSVA verblasst angesichts von immer mehr Lkw mit immer weniger CO2-Ausstoß zusehends. Der Anreiz, Fahrzeuge auf die Schiene zu verlagern, nimmt ab.
Verlagerung intensivieren
Die Schweizer wollen ihre Verlagerungspolitik deshalb weiterentwickeln und intensivieren. Eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist ein überzeugendes Angebot der Bahn. Die Transportqualität muss stimmen, es müssen ausreichend Kapazitäten und pünktliche Verbindungen angeboten werden, um den flexiblen Lkw zur ersetzen, der ohnehin die letzte Meile bedient. Hier steht Deutschland mit uneingelösten Versprechungen bei den Zuläufen tief in der Schuld der Schweiz. Aber auch die Koordination im europäischen System lässt stark zu wünschen übrig. Die Schweizer Regierung verhandelt unterdessen mit Frankreich und Belgien, um auf der Strecke Basel–Straßburg–Metz einen Vier-Meter-Korridor umzusetzen.