Brexit: Lange Staus befürchtet
Selbst wenn sich die EU und Großbritannien noch auf ein Handelsabkommen einigen, ist das Chaos auf der Insel wohl programmiert. Die Regierung versucht, der Wirtschaft die Schuld in die Schuhe zu schieben und warnt vor Staus mit 7.000 Lkw. Auch die Transportbranche, die immer wieder klare Vorgaben und Vorbereitungen angemahnt hatte, um den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten, wird angezählt.
Britische Transportbranche wehrt sich
Die wehrt sich und betont, die Regierung müsse dafür sorgen, dass Logistiker rechtzeitig Einzelheiten über die neuen staatlichen IT-Systeme erfahren und einen Zugang bekommen. Nur so könnten sie getestet und Personal geschult werden. „Dazu gehören auch Smart Freight und GVMS“ – die neuen Systeme für das Grenzmanagement, betont der Branchenverband Logistics UK.
Aber die Regierung ist mit ihren Maßnahmen wie einer App für Lkw-Fahrer in Verzug. Smart Freight wird wohl erst im Dezember fertig, als Beta- oder Testversion. Jetzt fordert das Kabinett die Wirtschaft auf, Tempo zu machen, und hat eine Mobilisierungskampagne mit dem Titel „Time is Running Out“ („Die Zeit läuft ab“) gestartet.
Die Labour-Abgeordnete Rachel Reeves ist empört: „Ohne die nötigen Systeme ist das wie eine Aufforderung zum Kuchenbacken, ohne den Ofen anzustellen.“ Klar ist: Im Außenhandel wird es mit dem Ausscheiden der Briten aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahresende auch ohne Zölle neue Regeln und viele neue Dokumente geben, auf die die britische Verladerschaft offenbar nur unzureichend vorbereitet ist.
Einfahrt nur mit Erlaubnis
Damit der Verkehr weiter fließt, soll es darum künftig über Smart Freight eine „Zufahrtserlaubnis“ (Kent Access Permit/KAP) zur am meisten betroffenen Grafschaft Kent geben. Stößt man dort auf Fahrer, deren Papiere für den Hafen Dover oder den Eurotunnel nicht in Ordnung sind, droht die Regierung mit Strafen von 300 Pfund.
Geldstrafe bei Missachtung
„Unsere Mitglieder sind bestürzt, dass die Pflicht zur Einhaltung der neuen Regeln den Fahrern selbst auferlegt wird, sodass sie persönlich mit einer Geldstrafe belegt werden, wenn sie sich nicht an die neuen Regeln halten“, sagte Chris Yarsley von Logistics UK. Durch Zugangsgenehmigungen werde eine britische Binnengrenze geschaffen, was zu noch mehr Bürokratie führe.
Brexit stört Im- und Export
Der für den Brexit zuständige Staatsminister Michael Gove aber drängt zu beschleunigten Vorbereitungen für einen „Ausstieg im australischen Stil“ – also ohne Handelsvertrag mit der EU. Bereits zuvor hatte sein Büro ein Worst-Case-Szenario veröffentlicht, das für helle Aufregung sorgte. Aufseiten der Verlader seien nur etwa 50 bis 70 Prozent der großen Unternehmen in der Lage, die erforderlichen EU-Dokumente zu präsentieren, heißt es in dem Papier. Noch düsterer wird es bei kleinen und mittleren Betrieben, die offenbar lediglich zu 20 bis 40 Prozent gut vorbereitet sind. „Daher gehen wir davon aus, dass sowohl Importe als auch Exporte in ähnlichem Ausmaß gestört werden könnten“, heißt es in Goves Papier. Betroffen sein könnten auch Waren wie Lebensmittel, Medikamente oder Krankenhausmaterial.
Megastaus und mehrtägige Verspätungen
Da laut dem Szenario 40 bis 70 Prozent der Lkw nicht auf die neuen Grenzkontrollen vorbereitet sind, könnte dies zu Megastaus von bis zu 7.000 Trucks und zwei Tagen Verspätung in Richtung Kanalhäfen führen. Darin könnten dann auch Unternehmen vom europäischen Festland hängen bleiben, die in der Regel mit Zollformalitäten vertraut und gut vorbereitet sind. Für gewöhnlich überqueren in einer geschäftigen Januarwoche rund 40.000 Lkw den Kanal. Bei den angekündigten Riesenstaus ist es für die Fahrer lediglich ein schwacher Trost, dass mobile Toilettenhäuschen am Fahrbahnrand aufgestellt werden sollen, so die Ansage von Verkehrsministerin Rachel Maclean.
Verkehre nach UK einstellen?
Das Worst-Case-Szenario geht davon aus, dass manche Spediteure angesichts der Verspätungen keine Fahrzeuge mehr auf die problematischen Strecken schicken werden. Und auch in deutschen Unternehmen gibt es solche Überlegungen. Großbritannien sei von der EU ohnehin viel abhängiger als umgekehrt, heißt es unisono. Die britische Regierung geht davon aus, dass sich die Lage im Laufe des ersten Vierteljahres verbessern wird, da Verlader und Fuhrunternehmen sich an die neue Situation anpassten. Es bestehe aber auch weiterhin die Gefahr einer anhaltenden Unterbrechung, verursacht durch rigoros angewendete Schengenkontrollen im Hafen von Dover und im Eurotunnel.