Berlin und der ÖPNV: Wirbel um kostenlose Busfahrt
Fast mutet es wie ein Faschingsscherz an: Einen Tag lang sorgte ein Brief dreier geschäftsführender Minister aus Berlin an die EU-Kommission für eine intensive Diskussion über den kostenlosen ÖPNV. Der Hype wurde am Aschermittwoch schnell ausgetreten, doch könnte er deutliche Spuren hinterlassen.
Am vergangenen Januar-Wochenende staunten die Bürger der mittelhessischen Unistadt Gießen nicht schlecht. "Politclowns" (O-Ton "Gießener Allgemeine") hatten kurz vor dem hessischen Fasching großflächig einen gefälschten, aber offiziell wirkenden Flyer verteilt, in dem die kostenlose Mitnahme in den Erdgasbussen der Stadt für eine Woche verkündet wurde. Der bürgerfreundliche Spuk fand freilich ein jähes Ende: Es handele sich um einen "üblen Scherz" mit "definitiv falschen" Behauptungen, teilten die Stadtwerke kurzerhand mit. Für die Fahrt mit Bussen und Bahn würden nach wie vor die regulären Tarifpreise gelten.
Tatsächlich hatte das Stadtparlament im November den Magistrat beauftragt, die Kosten zu ermitteln, wenn zum Beispiel an Samstagen die Nutzung aller Buslinien im Stadtverkehr ohne Fahrschein möglich würde. Ein Ergebnis liegt noch nicht vor, auch wenn in dem gefälschten Flugblatt ein anderer Eindruck vermittelt wird.
Posse in der Provinz
Für einen Tag sah es dann in der Karnevals-Woche so aus, als wäre diese Idee mehr als ein Sponti-Scherz in der Provinz – und das für ganz Deutschland. Am Dienstag dieser Woche berichteten alle deutschen Medien über eine beachtliche Kommunikation aus Berlin nach Brüssel, wo die Bundesrepublik wegen zu hoher Abgaswerte und mangelnder Maßnahmen gegen den Dieselbetrug massiv unter Druck steht. Im Kampf gegen schlechte Luft in deutschen Städten erwäge die Bundesregierung nach diesem Schreiben die Einführung eines kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), oder "Free Public Transport". Das gehe laut Süddeutscher Zeitung aus einem Schreiben der zuständigen Ressorts an EU-Umweltkommissar Karmenu Vella hervor.
Vorschläge an die Europäische Kommission
Kurz vorher mussten Hendricks und andere Regierungsvertreter in Brüssel die deutsche Position erläutern und fristgerecht Vorschläge einreichen. Ziel sei es, die Zahl der Privatfahrzeuge in den Städten zu reduzieren, heißt es in dem Brief von Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU). "Wir haben unsere Position zu den nötigen Maßnahmen überdacht und weiterentwickelt", schreiben die drei geschäftsführenden Minister beziehungsweise die Ministerin. "Wir erkennen den Zeitdruck und die Notwendigkeit effizienten Handelns an." Erste Pilotversuche sollten in Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim erfolgen, über deren Finanzierung gab es keinerlei Angaben.
Einen Tag später, am Aschermittwoch, ruderte die Bundesregierung dann erkennbar heftig zurück, nachdem das Thema eine enorme mediale Sprengkraft entwickelt hatte. Regierungssprecher Steffen Seibert nannte die in dem Brief an die EU-Kommission enthaltenen Schritte "Vorschläge zur Verbesserung der Luftqualität", über die "zusammen mit den Ländern und Kommunen" nachgedacht werden solle. Letztendlich sei es an EU-Umweltkommissar Karmenu Vella, diese Vorschläge zu bewerten. So wie Seibert sprach auch ein Vertreter des Umweltministeriums von "Vorschlägen" und "Modellregionen", in denen bestimmte Maßnahmen ausprobiert werden könnten. Letztlich könnten die Kommunen aber selbst bestimmen, was sie machen. "Rein theoretisch" könne es sein, dass keine dieser Städte die genannten Maßnahmen letztlich auch umsetze, sagte der Sprecher laut ZEIT online.
Umweltlobbyisten freuen sich
Neben vielen Medien begrüßten vor allem Umwelt- und alternative Verkehrsverbände wie Greenpeace oder der Verkehrs Club Deutschland (VCD) fast ungläubig den mutmaßlichen Vorstoß in Richtung Brüssel. Philipp Kosok, VCD-Referent für Bahn und ÖPNV etwa freut sich: "Endlich entdeckt die Regierung ihren Mut zu ambitionierten Ideen. Saubere Luft in den Städten kann es nur mit deutlich mehr Fahrgästen in Bussen und Bahnen geben." Der Schuldige für die Abgasmisere ist denn auch schnell ausgemacht: "Zahlen sollten für den kostenlosen ÖPNV in den von schlechter Luft betroffenen Städten allerdings nicht die Steuerzahler, sondern die Verantwortlichen für die hohen Stickoxid-Werte: die betrügerische Autoindustrie." Testläufe für den verbilligten ÖPNV seien unnötig, zudem rechnet der Verband vor, mit den 7,4 Mrd. Euro, die dem Staat an Dieselsteuer entgingen, ließen sich die Ticketpreise alleine halbieren.
ÖPNV-Unternehmen zeigen sich skeptisch
Bei den Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs stieß der Vorstoß auf Skepsis. Die Verkehrsbetriebe finanzierten sich zu 50 Prozent aus Ticketerlösen, sagte eine Sprecherin des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), der 600 Betriebe vertritt. Die Einnahmen beliefen sich derzeit auf zwölf Milliarden Euro pro Jahr, und das ohne Infrastrukturkosten. Verbandspräsident Jürgen Fenske betont in einer Pressemeldung seine in lastauto omnibus Heft 3/2018 gemachten Aussagen: "Bevor man über kostenlosen, also steuerfinanzierten Nahverkehr nachdenkt, müssen zunächst überhaupt die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen ÖPNV in Deutschland geschaffen werden. Schon heute drängeln sich die Fahrgäste überall in Bussen und Bahnen. Ein kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen Systeme vollständig überlasten." Die Hamburger Verkehrsbetriebe rechnen vor, wie teuer ein kostenloser Nahverkehr in der Hansestadt kommen würde und beziehen sich dabei auf einen teuren Bau an der Elbe. "In etwa eine Elphi pro Jahr", sagte der HVV-Sprecher laut Spiegel Online über die Kosten.
bdo fordert Rückbesinnung auf die Werte der Marktwirtschaft
Der Verbandspräsident des Verbands Deutscher Busunternehmer (bdo) fordert derweil grundsätzlich "eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der Marktwirtschaft" im ÖPNV, und fährt gleichzeitig einen verbalen Angriff auf die kommunalen Verkehrsunternehmen:
"Private Verkehrsunternehmen können den ÖPNV effizienter planen und organisieren als kommunale Anbieter – und dadurch die notwendigen Ausgleichsleistungen etwa für kostenlose Angebote gering halten", lässt Karl Hülsmann verbreiten. "Gerne bringen wir uns mit dieser Expertise noch stärker ein. Wir brauchen dabei aber eine klare Regelung für transparente und faire Finanzierungsstrukturen mit allgemeinen Vorschriften. Wenn wir es damit möglich machen, dass sich das Potenzial und die Leistungsfähigkeit der privaten Unternehmen voll entfalten, können wir den gewünschten ÖPNV-Ausbau mit vergleichsweise geringeren Kosten stemmen. So wird es doch überhaupt erst möglich, die Umwelt und die Gesundheit der Menschen zu schützen."