Hellmann übernimmt ersten Mercedes-Benz E-Vario
BPW startet zusammen mit dem Logistiker Hellmann den ersten Feldversuch im Alltagsverkehr mit seiner Nachrüst-E-Achse. Technologieträger ist ein Mercedes-Klassiker Vario.
Über einen Zeitraum von sechs Monaten wird sich die nagelneue Technik ab sofort im bewährten 7,5-Tonner beweisen müssen. Hellmann setzt den von Paul mit der BPW-Achse auf Elektroantrieb umgerüsteten Vario eigenen Angaben zu Folge für jeweils zwei Monate in Osnabrück, Lehrte und Bielefeld ein. Dabei soll er sich in verschiedenen Geländen und auf unterschiedlichen Touren in der innenstädtischen Belieferung beweisen. Auch der Zeitraum sei bewusst gewählt. So ist der Vario bei unterschiedlichsten Wetterbedingungen unterwegs. Gleich zu Beginn des Tests heizt die Sonne das Einsatzgebiet auf rund 30 Grad auf. Im Laufe seines sechsmonatigen Versuchseinsatzes werde er aber auch mit Schnee und Eis klarkommen müssen.
Schwerer Transporter mit Heckantrieb
Die Nische des Mercedes Vario passt, da sind sich die Partner einig, perfekt zu einem Feldversuch in der Innenstadtlogistik mit nachrüstbarer E-Achse. Im Bereich bis 3,5 Tonnen Gesamtgewicht spielt der Frontantrieb samt aus Pkw entnommenen Elektro-Komponenten die bestimmende Rolle. In der nächsthöheren Gewichtsklasse jedoch ist das Standardlayout Frontmotor und angetriebene hintere Starrachse. Hier setzt BPW also an und ersetzt diese kurzerhand durch die eigene E-Achse. Die Aufnahmepunkte ändern sich dafür nicht. In der Achse steckt bereits der Elektromotor. So umgeht BPW einige Nachteile, die beispielsweise solche Lösungen mit sich bringen, die den Elektromotor an derselben Stelle einbauen wie den Verbrenner. Dann muss auch die E-Maschine mit denselben inneren Widerständen des Antriebstrangs kämpfen, um die Kraft vom Motor bis ans Rad zu übertragen. Bei BPW liefern zwei Asynchronmotoren diese Kraft – pro Seite einer. Die Maschinen leisten jeweils 75 kW und stemmen 3.250 Nm, also mehr als genug Kraft für den Vario. Gleichzeitig ermöglicht die Anordnung Torque Vectoring. Durch gezielte Kraftzugabe an einem der Räder lässt sich der Wendekreis deutlich verringern. Die Reichweite beträgt 100 Kilometer, ist also völlig ausreichend für den Innenstadtverkehr.
Testfahrt: Rustikal trifft auf High-Tech
Bei der kurzen Testfahrt entwickelt der Vario einen ganz eigenen Charme. Hier trifft ein jahrzehntealtes Fahrzeug auf neueste Technologie. Das rustikale Kombiinstrument ist größtenteils abgeklemmt, beispielsweise der Drehzahlmesser ohne Funktion. Dafür zeigt die Tankanzeige bereits den Ladezustand der Batterie, wenn auch hier und da beim Versuchsträger noch ein wenig Kalibrierung nötig sei. Der Antritt mit der E-Achse ist erwartungsgemäß enorm. Geht der Fahrer wiederum vom Gas, rekuperiert das Fahrzeug Energie. Dazu haben die Ingenieure den Nullpunkt des Fahrpedals verschoben. Bei der Fahrt passt er sich automatisch an die Geschwindigkeit an und verändert so stetig die abrufbare Energierückgewinnung. Allerdings hat ein so betagtes Basisfahrzeug auch seine Nachteile. Der Vario kommt aus einer Zeit des lauten Nagelns. Der Diesel hat also so manches Geräusch übertönt, wie zum Beispiel den Wind, der sich in den ausladenden Spiegeln verfängt. Das ist jedoch ein geringer Preis für die neu gewonnenen Möglichkeiten des alten Recken.
Vermeintliche Nachteile beim Stromer
Drei Faktoren, so BPW, gelten allerdings als nachteilig für den Elektroantrieb: Reichweite, Ladeinfrastruktur und Nutzlast. Für alle drei Probleme habe man aber die Lösung parat. Die Reichweite reicht für den Einsatzzweck aus. Eine Ladeinfrastruktur in der Innenstadt ist für die Fahrzeuge nicht nötig, da sie ja ohnehin nach der Tour zurück ins Depot kommen und dort geladen werden. Der dritte Punkt entpuppt sich beim Vario als nicht vorhanden. Paul baut Motor, Getriebe, Kardanwelle und Co. aus. All das wiegt rund eine Tonne, also genauso viel wie der E-Antriebstrang inklusive der Lithium-Ionen-Batterien. Ob mit Diesel oder E-Achse sei der Vario von Paul und BPW also nutzlastneutral umgerüstet.
Wissenschaftliche Studien im Vorfeld
Dem Feldversuch ging eine intensive wissenschaftliche Vorbereitung zusammen mit der Hochschule Osnabrück voran. Allein in drei Forschungsprojekten haben Wissenschaftler der Hochschule untersucht, wie sich das Thema E-Mobilität in der Region Osnabrück großflächig umsetzen lässt. Weiter habe man die Akzeptanz bei den Kunden von Hellmann untersucht. Von 206 befragten Kunden können sich demnach immerhin 48 Prozent vorstellen, mehr grüne Logistikdienstleistungen zu nutzen. Eine dritte Studie hat sich grundlegend damit befasst, für welche Szenarien im Logistikbetrieb die Elektromobilität überhaupt in Frage kommt und dabei unter anderem auch untersucht, ob überhaupt entsprechende Fahrzeuge auf dem Markt verfügbar sind.
Feldversuch soll neue Erkenntnisse bringen
„Wir freuen uns, dass sich Hellmann als weltweit tätiger Logistikdienstleister, der sich der Nachhaltigkeit verschrieben hat, für unsere Lösung entschieden hat“, sagt Markus Schell, geschäftsführender Gesellschafter von BPW. „So können wir in den gemeinsamen Feldversuchen wertvolle Erkenntnisse zu unterschiedlichsten Praxisanforderungen gewinnen und die Weiterentwicklung nutzen, bevor wir ab Ende dieses Jahres in die Serienumrüstung von Dieselfahrzeugen starten.“ Die nachträgliche Umrüstung ist vor allem für die Betreiber wirtschaftlich interessant. Zwar schlägt die Umrüstung mit Kosten von 100.000 bis 120.000 Euro zu Buche – ohne Fahrzeug, das muss der Kunde im Zweifel selbst besorgen – die Kosten für die Umrüstung sind aber laut BPW bis zu 75 Prozent vom Bund förderfähig. Allerdings, so BPW, birgt das Umrüstgeschäft den großen Nachteil, nicht zu skalieren. BPW rechnet demnach mit rund 100 Einheiten pro Jahr. Der Umrüstprozess an sich ist relativ aufwändig. Darum will das Wiehler Unternehmen im zweiten Schritt mit Fahrzeugherstellern zusammenarbeiten, um die Achsen direkt in die Serie einfließen zu lassen.
Variante für 26-Tonner
Dabei beschränke man sich nicht nur auf die relativ eng gefasste Gewichtsklasse über 3,5 und unter 7,5 Tonnen. BPW hat bereits eine E-Achse für schwere Lkw mit Gesamtgewicht bis 26 Tonnen entwickelt. Der Aufbau unterscheidet sich nicht grundlegend von der Technik im Vario. Die Leistungswerte tun es hingegen gewaltig. Pro Rad liefern die Motoren dann 280 kW und 11.000 Nm Drehmoment.